Politische Ordnungsvorstellungen und Ordnungskonfigurationen im Heiligen Römischen Reich und in Polen-Litauen in der Frühen Neuzeit. Vergleiche und Transfers

Politische Ordnungsvorstellungen und Ordnungskonfigurationen im Heiligen Römischen Reich und in Polen-Litauen in der Frühen Neuzeit. Vergleiche und Transfers

Organisatoren
Zentrum für historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.11.2010 - 14.11.2010
Url der Konferenzwebsite
Von
Sašo Jerše, Institut für Geschichte, Philosophische Fakultät der Universität in Ljubljana

Die wissenschaftliche Tagung „Politische Ordnungsvorstellungen und Ordnungskonfigurationen im Heiligen Römischen Reich und in Polen-Litauen in der Frühen Neuzeit – Vergleiche und Transfers“, organisiert von der jüngsten Generation der Historiker aus Oxford, Berlin und München im Berliner Zentrum für historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften, machte sich zur Aufgabe, die von der deutschen und polnischen Historiographie nationalgeschichtlich postulierten Grenzen zu beschreiten und das frühneuzeitliche Reich auf der einen Seite und die polnisch-litauische rzecz pospolita auf der anderen einer vergleichenden Analyse zu unterziehen.

Der Ausgangspunkt der Überlegungen der Organisatoren, wie sie CHRISTIAN PREUSSE (Oxford) und TOMASZ GROMELSKI (Wien/Oxford) in ihren einführenden Darstellungen dargelegt haben, war die Annahme, dass beide politischen Entitäten im historischen Bogen vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert betonte strukturelle Ähnlichkeiten und bemerkenswerte verfassungsgeschichtliche Parallelität ausweisen würden, die in der geopolitischen Beschaffenheit des Reiches beziehungsweise Polen-Litauens, in ihren verfassungs- und konfessionspolitischen Ordnungskonfigurationen sowie in den politischen und theologischen Diskursen zum Ausdruck kämen. Gestützt auf die moderne historische Politikforschung setzten sich Preusse und Gromelski für eine vergleichende historische Analyse beider politischen Entitäten ein, welche die politische Praxis einerseits und die Welt- und Wertvorstellungen andererseits im Blick behalten beziehungsweise sie in Verbindung bringen und kontrastieren sollte. Somit kämen, erhofften sich Preusse und Gromelski, die Analogien und Parallelen der politischen Ordnungskonfigurationen und Ordnungsvorstellungen des Reiches und Polen-Litauens sowie deren Transfer zum Vorschein; dem Charakter und der Dynamik des Ideen- und Praktikentransfers gälte es sich dabei im Besonderen zu widmen.

Dem Plädoyer der Oxforder Dissertanden schloß sich in seinem Vortrag MICHAEL G. MÜLLER (Halle an der Saale) an, indem er die verfassungsgeschichtlichen „Sonderwege“ in Mitteleuropa in Bezug zur Frühen Neuzeit thematisierte. Diese seien einer nationalgeschichtlich kolorierten romantischen Emphase des 19. Jahrhunderts entsprungen und seien nationalstaatlich definiert gewesen und als solche bis in den heutigen Tag geblieben. Wer konstruierte diese „Sonderwege“, fragte sich Müller, wann und zu welchen Zwecken? Wo fangen diese Wege an und wohin führten beziehungsweise führen sie? Ohne seine Fragen zu beantworten, versuchte Müller darauf aufmerksam zu machen, dass die „Sonderweg“-Konstruktion stets eine Art Dialektik der Traditions-Invention und des Traditions-„Zuschüttens“ demonstriere – ein Phänomen, das die nationalgeschichtlich inspirierte „Sonderweg“-Konstruktion mit der frühneuzeitlichen Wissensproduktion und Konstruktion von Ordnungskonfigurationen teile; es handele sich um die im verfassungspolitischen Sinne grundsätzliche Frage der Soziabilitätspotential des politischen Ideengutes sowie um die Frage nach dessen Politisierungsmöglichkeiten: Auf welchen ideenpolitischen Grundlagen konstituiert sich eine politische Entität, mit welchen Zwecken und unter welchen Prämissen?

Dieser Thematik widmeten sich im Laufe der Tagung, gestützt auf unterschiedliche Paradigmata, die Überlegungen von Maciej Ptaszynski und Damien Tricoire sowie die Vorträge von George Lukowski, Edward Opalinski und Jolanta Choinska-Mika. Die Überlegungen von MACIEJ PTASZYNSKI (Warschau) widmeten sich dem Widerstandsrecht in den ständischen Debatten der polnisch-litauischen rzecz pospolita im 16. Jahrhundert, einem in der polnischen Geschichtsschreibung wohl kaum beschrittenen Terrain. In seiner Darlegung des Themas durfte sich Ptaszynski bei der modernen anglosächsischen, deutschen und österreichischen Geschichtsforschung – insbesondere bei Robert von Friedeburg und Arno Strohmeyer – inspiriert haben; auf sie nahm er jedoch keinen direkten Bezug. Dennoch sind die Parallelen zwischen den Widerstandsdebatten in den Territorien Deutschlands, Österreichs und Polen-Litauens, die dank der Darlegung Ptaszynskis zum Vorschein kamen, bemerkenswert. Zum einem zeigen sie sich in den Ursprüngen des Widerstandsrechts; sowohl in Reichterritorien als auch in Polen-Litauen bestanden diese aus der Widerstands- und Rechtstradition, der Geschichte und der Rechtskonstruktion, im polnisch-litauischen Falle habe darüber hinaus laut Ptaszynski die dem Aristotelismus verpflichtete Tradition der Krakauer Akademie eine maßgebende Rolle gespielt. Zum anderen ist die Verfassungsparallelität in der Verzahnung des Rechtlichen respektive Politischen mit dem Religiösen zu sehen; dass sich ius resistandi und causa confessionis auch in Polen-Litauen nicht auseinander denken ließen, zeigte Ptaszynski anschaulich.

Das polnisch-litauische Widerstandsrecht sei Ptaszynski zufolge mit dem Ausklang des 16. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten, die Verzahnung des Politischen und Religiösen habe jedoch tief in das 17. Jahrhundert Bestand gehabt, wie DAMIEN TRICOIRE (Paris/München) in seinen Ausführungen darlegte. Mehr noch, in der Zeit der Wasa-Könige dürfte sich die Verzahnung des Religiösen und Politischen intensiviert haben, allemal bekam sie ein „barockes“ semantisches Outfit. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sei es laut Tricoire zu einer neuen Sakralisierung der königlichen Herrschaft gekommen, ja zu einer Katholisierung des Politischen, was auf den großen Einfluß der Societas Jesu auf die Herrschaftsvorstellungen der Könige zurückzuführen sei. Die königliche Frömmigkeit – Pietas – und Gerechtigkeit – Iustitia – seien zu den „Imperativen des Staates“ stilisiert worden, hätten sich jedoch als allgemein akzeptierte Herrschaftsprinzipien nicht bewähren können. Das ausgewiesene Iustitia-Defizit der derart gestalteten politischen Ordnungskonfiguration habe, so Tricoire, dazu geführt, dass diese ihre politische Funktionalität einbüßte: Die Stärke der Monarchie – ihr sakraler Herrschaftscharakter – habe demnach ihrer Schwäche – d.h. der mangelnden politischen Funktionalität und der äußerst schwachen politischen Kommunizierbarkeit des sakralen Herrschaftskonzeptes – unterliegen müssen.

Dies führte jedoch nicht zum Erlöschen des sakralen Herrschaftskonzeptes im polnisch-litauischen politischen Diskurs, wie man aufgrund des Vortrages von GEORGE LUKOWSKI (Birmingham) schließen konnte. Lukowski widmete sich dem polnischen aufgeklärten Republikanismus und seinem Verfassungsprojekt, das eine bemerkenswerte soziale Innovation, ja einen sozialen Radikalismus demonstriert habe – an diesem sei er laut Lukowski schließlich jedoch gescheitert –, zugleich habe er auf das sakrale Duktus nicht verzichten können: Die sogennante Vierter-Mai-Verfassung sei in der Herrschaftsoptik ihrer Architekten ein geradezu sakraler Akt gewesen. Sie selbst habe dennoch desakralisierte, ja aufgeklärte Politik- respektive Herrschaftsinstrumente in die polnisch-litauische Verfassungsordnung eingeführt; im Geiste der Mai-Verfassung sollte diese dem Prinzip von „cheques-and-balances“ unterworfen werden. Mit anderen Worten, die sakralen Ordnungsvorstellungen gingen noch im späten 18. Jahrhundert quasi naturgemäß Hand in Hand mit den desakralisierten Ordnungskonfigurationen. In diesem Aspekt dürfte sich die polnische Aufklärung als wenig innovativ ausgewiesen haben. Dieselbe Allianz des Sakralen und Säkularen glaubte nämlich EDWARD OPALINSKI (Warschau) in den Gremien des polnischen Adels – in der Konföderation und Rokosz – erblicken zu können, und den Ausführungen von JOLANTA CHOINSKA-MIKA (Warschau) zufolge habe sie auch das Sejm ausgezeichnet; dabei ginge es stets um die soziale Akzeptanz der Beschlüsse der adeligen Gremien und somit um die Konstruktion der Legitimität der Verfassungsordnung selbst.

Parallel zu diesem sakralisierten Verfassungsdiskurs sei in Polen-Litauen – ähnlich wie im Reich – ein desakralisierter, vom „utilitaristischen Dispositiv“ interessengeleitet getriebener Diskurs am Werk gewesen, der die jüdische Bevölkerung betroffen habe. KLEMENS KAPS (Wien) zeigte in seinen Ausführungen, wie sich dieses im Grunde antijüdische „utilitaristische Dispositiv“ in der Zeit der Aufklärung intensivierte und an Dynamik gewann. Maßgebend habe es jedoch bereits die politischen Ordnungsvorstellungen und somit auch Ordnungskonfigurationen des 16. und 17. Jahrhunderts geprägt, wie JÜRGEN HEYDE (Halle a d. Saale), der über das Thema Juden in den polnisch-litauischen Verfassungsdebatten vortrug, und IGOR KAKOLEWSKI (Warschau), der die Frage der christlichen Toleranz gegenüber Juden im Reich und in Polen-Litauen thematisierte, zeigen konnten.

Der Frage der Dynamik, welche die Verfassungsordnung im Heiligen Römischen Reich und in Polen-Litauen ausgezeichnet habe, sind in ihren Vorträgen Horst Carl und Peter Colmer nachgegangen. HORST CARL (Gießen) widmete sich dabei den genossenschaftlichen Traditionen im Heiligen Römischen Reich und behauptete, dass das Föderative – das er als den anthropologischen Rahmen der verschiedenartigen Ordnungsvorstellungen im Reich charakterisierte – im Laufe der Frühen Neuzeit eine beschleunigte Verrechtlichungsdynamik ausgezeichnet habe, was die „Verherrschaftlichung“ respektive „Verorbrigkeitlichung“ der Ordnungsvorstellungen und Ordnungskonfigurationen zur Folge gehabt habe. Die unmittelbaren, „praktischen“ Dimensionen von derartigen verfassungspolitischen Tendenzen zeigte PETER COLMER (Zürich) auf, indem er die Ordnungsvorstellungen, welche die Sachsenkönige in Polen-Litauen implementieren wollten, unter dem Aspekt ihrer Normativität und Nachhaltigkeit sowie unter dem der Sicherung und Stärkung der königlichen Herrschaft thematisierte. Anschaulich zeigte er, wie die sächsischen Ordnungsvorstellungen mit der polnischen administrativen Praxis zunächst kollidierten, nach einem Transferprozess, der sich durch Anpassung und Simplifizierung der sächsischen administrativen Praktiken ausgezeichnet habe, sowie im Laufe des Aushandlungsprozesses zwischen dem königlichen Hof, den granden und Untertanen, jedoch Fuß fassen konnten und sogar über die epocha saxa hinaus Bestand hatten.

Der Vergleich der Administrations- und Herrschaftspraktiken im Reich und in Polen-Litauen war in der Folge das Thema der Vorträge von Wojciech Krawczuk und Hans-Jürgen Bömelburg. WOJCIECH KRAWCZUK (Krakau) widmete sich in seinem Vortrag der Frage der „Macht“, die von den Kanzleien der polnischen Könige beziehungsweise des Kaisers ausging; das Konzept „Macht“ selbst blieb in seinen Ausführungen nicht thematisiert. Er verwies auf Parallelen in der Entwicklung beider Kanzleien seit dem 15. Jahrhundert , die er sowohl in der Kanzleistruktur als auch im Kompetenzbereich der Kanzleien sah. Enge Parallelen in der Entwicklungsdynamik und zugleich bemerkenswerte Unterschiede in dem Kompetenzbereich konnte HANS JÜRGEN BÖMELBURG (Göttingen) in seiner vergleichenden Analyse des Reichskammergerichts und der polnisch-litauischen Tribunalverfassung skizzieren. Anders als im Fall der administrativen Praktiken, über welche Peter Colmer vortrug, sei laut Bömelburg der geförderte Transfer im Justizbereich gescheitert, was nicht zuletzt auf die unterschiedliche Zusammensetzung der beiden Foren zurückzuführen sei; das polnische Tribunal zeichnete sich nämlich durch eine im Vergleich zum Reichskammergericht geringere Professionalisierung aus.

Auf geringe Transfermöglichkeiten im Bereich des Schul- beziehunsgweise Ausbildungswesens musste man nach den Ausführungen von ALAN ROSS (Göttingen) schließen, der sich die protestantischen Lateinschulen im Reich und in Polen-Litauen zu seinem Thema machte. Mit seiner vergleichenden Analyse „zweier dezentralisierter Bildungssysteme“ hat Ross – wie die Diskussion im Anschluss auf seine Präsentation zeigte – einen neuen Weg in der vergleichenden historischen Schulforschung eröffnet, der sich der Frage nach der Rolle des Schulwesens in der jeweiligen politischen Ordnung widmet. Ähnliche Ambition brachten die Gedanken von ELKE FABER (Passau) zum Ausdruck, die sich mit den Provinzialsynoden und ihren Funktionen in den politischen Ordnungskonfigurationen des Reiches und Polen-Litauens auseinandersetzten.

Der vorbildhaft organisierten, von der Gerda Henkel Stiftung und der German History Society unterstützten Tagung wollen die Organisatoren einen Sammelband mit den Vorträgen folgen lassen. Die Vorträge wären dies wert und das wissenschaftliche Publikum dürfte den Band zu schätzen wissen. Allemal öffnete die Tagung, die die Möglichkeiten einer vergleichenden Geschichte Europas auf die Probe stellte, ohne sich von ihren Grenzen entmutigen zu lassen – dies allein eine bemerkenswerte Leistung –, neue Perspektiven in der deutsch-polnischen Frühneuzeitforschung.

Tagungsübersicht:

Einführungvorträge

Tomasz Gromelski (Wien), Christian Preusse (Oxford): Methodische Perspektiven für den Vergleich politischer Ordnungsvorstellungen und Ordnungskonfigurationen im Heiligen Römischen Reich und in Polen-Litauen in der Frühen Neuzeit

Michael G. Müller (Halle a.d. Saale): Reichssystem – Adelsrepublik – Ostmitteleuropa. Historiographische Beschreibungskategorien und ihre Auswirkung auf vergleichende Fragestellungen

Vortragsreihe I – Politische Ordnungsvorstellungen und Politische Sprachen in Polen-Litauen und im Heiligen Römischen Reich

Maciej Ptaszynski (Warschau): Zwischen Gemeinwohl und Staatsräson. Das Widerstandsrecht in den Ständedebatten der polnisch-litauischen Republik

Horst Carl (Gießen): Genossenschaftliche Traditionen und Republikkonzeptionen im Heiligen Römischen Reich

George Lukowski (Birmingham): Polish enlightened republicanism: the „Project for the Form of Government“ - the official constitutional reform programme of the Four Years Sejm

Peter Collmer (Zürich): „L’ordre qu’on déteste“ – zum Erfolg sächsischer Ordnungsvorstellungen in der administrativen Praxis Polen-Litauens

Jürgen Heyde (Halle a.d. Saale): Reichsreform und jüdische Bevölkerung. Juden als Thema in den Reformdebatten des 16. Jahrhunderts im Königreich Polen

Igor Kokolewski (Warschau): Toleranz oder Tolerierung? Das Problem der Toleranz von Christen gegenüber Juden im Alten Reich und in Polen-Litauen im 16. und 17. Jahrhundert

Klemens Kaps (Wien): Aufklärung, Religiöse Toleranz und ihre Grenzen: Antijüdische Diskurse und Praktiken zwischen Emanzipation, Integration und Exklusion in Polen-Litauen und der Habsburgermonarchie - vom Vergleich zum Transfer (1780-1792)

Vortragsreihe II – Politische Ordnungskonfigurationen

Edward Opalinski (Warschau): Konföderation und Rokosz
Wojciech Krawczuk (Krakau): Die Kanzleien der Herrscher – reine Instrumente der Macht?

Alan Ross (Göttingen): Protestantische Lateinschulen im Heiligen Römischen Reich und in Polen-Litauen

Hans-Jürgen Bömelburg (Gießen): Reichskammergericht und die polnisch-litauische Tribunalverfassung

Jolanta Choinska-Mika (Warschau): Representatives and represented. Local envoys at the Diet and their constituents' expectations in the second half of the seventeenth century

Vortragsreihe III – Politische Ordnungsvorstellungen und die Verzahnung von Politik und Religion in Polen-Litauen und im Heiligen Römischen Reich

Elke Faber, M.A. (Passau): Provinzialsynoden und ihre Funktionen in den politischen Systemen Polen-Litauens und des Alten Reichs
Damien Tricoire, M.A. (Paris/München): Die Widersprüchlichkeit der Wasa-Zeit: Sakralisierung der Monarchie und Konflikte um das Iustitia-Defizit


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